Der Vortrag

 

von Karl-Heinz Hense

 

 

Sütterlin-Lettern kündigten auf weithin leuchtenden Plakaten den Vortrag des Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Konrad Weitzenkorn über die Bedeutung des Sächsischen Genitivs für Dichter und Schriftsteller, die ihn verschmähten - mit exemplarischen Nachweisen -, an. Man war sich nicht nur unter Eingeweihten im Klaren, daß der kleinen Universitätsstadt ein kultureller Höhepunkt beschert wurde. Wochenlang vor dem Ereignis erging man sich im Germanistischen Seminar in Spekulationen darüber, welche Dichter und Schriftsteller wohl als exemplarisch hinsichtlich der Verschmähung des Sächsischen Genitivs gelten könnten. Nestbeschmutzende Stimmen wurden laut, die wissen wollten, auch der große Sohn der Stadt, Diogenes Kristall, sei unter jenen. Der größte Teil der Professorenschaft und des gymnasialen Lehrkörpers quittierte solche Provokationen mit überlegenem Schweigen. Immerhin hatten seine vereinigten Anstrengungen es vermocht, einen Konrad Weitzenkorn zu einem Vortrag herzuverpflichten; wie hätte man sich da noch auf verleumderisches, kleindenkerisches Dilettantengeschwätz einlassen müssen! Selbst einige längst emeritierte Literaturwissenschaftler, die mit dem Institut in Fehde lebten wegen der allzu modernen Ansichten, die dort nach und nach Einzug gehalten hätten, ließen sich herbei, in Zeitungsartikeln und in allfälligen Fachgesprächen ihre verhaltene Anerkennung bezüglich der Leistung ihrer jüngeren Kollegen auszudrücken. Sie sei um so höher zu bewerten, so ließen sie verlauten, als es sich summa summarum um die einzige seit Jahren handle. Nur eine Handvoll unverbesserlicher Querulanten, vornehmlich unter den Studenten, sprach von längst überholten Ansichten, ja, von Nostalgie, die in der Verpflichtung Weitzenkorns zum Ausdruck kämen. Man bedachte sie allgemein mit Mißachtung, gelegentlich mit Spott; ob die Rädelsführer der Universität verwiesen werden, steht noch dahin. Der große Tag jedenfalls kam trotz aller Widrigkeiten heran. Den Wochen fieberhafter Diskussionen um und haushoher Spekulationen über den Inhalt des bevorstehenden Vortrages stand die prunkvolle Krönung ins Haus. Auch die würdigen Emeriti betraten das geschmückte Auditorium Maximum und harrten über einigen geringschätzenden Blicken auf die jüngere Professorenschaft Weitzenkorns Ankunft. Endlich öffnete sich die Tür links vom Podium, und die Koryphäe erschien, die Ordinarien des Instituts und seine Assistentenschar im Gefolge. - Obwohl man ihn allgemein kannte, obwohl sein Konterfei und jede seiner Gewohnheiten dem Publikum aus Presse, Rundfunk und Fernsehen bekannt waren - der Anblick berauschte die Harrenden. Die silberne Haarpracht über der hohen Stirne schien ihnen Lorbeer, sein wiegender Gang ließ Sportstudenten erbleichen und weibliche Drittsemester in Ohnmacht fallen. Mit zielgenau geradeaus gerichtetem Blick gewann er die Stufen zum Podest, um sich majestätisch hinter dem erhabenen Pult aufzustellen. Der lässigen Geste und den Worten „Verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen” begegnete brausender Beifall. Schon jetzt übertraf das Ereignis alle Erwartungen. Die professionellen Vorbereitungen hinter dem Rednerpult beschloß Weitzenkorn mit der Prozedur, sich in ein rotkariertes Taschentuch zu schneuzen. Des Rhetorischen Kundige, selbst Jens-Kolleg-Absolventen, waren entzückt ob dieses einzigartigen Einstiegs. - Dann begann er. Und er ließ es wahrlich an Höhepunkten nicht fehlen. Was allgemein für Erleichterung sorgte: Diogenes Kristall wurde mitnichten exemplarisch erwähnt (aus Höflichkeit, meinten später die unverbesserlichen Querulanten). Ach, was soll man sagen - als der Meister ungefähr die Mitte seiner Ausführungen erreicht hatte, spürten alle: Nun liegt etwas Außerordentliches, Unerhörtes in der Luft, die Emanation des Genius; das Zeichen, daß er der Götter Gunst inne ist. Und niemand verwunderte es, wenn es auch allen den Atem verschlug, daß die Gestalt Weitzenkorns sich nun langsam über den Boden erhob und schließlich waagerecht hinter dem Rednerpult schwebte. Seine Stimme blieb gleichmäßig, und als sei nichts geschehen, brachte er seinen Vortrag in dieser Lage zuende. - Der Applaus war unbeschreiblich. Stehend huldigte man dem Titanen, während dieser inmitten der jubelnden Honoratioren dem Auditorium entschwebte. Wann er der Fortbewegungsart normaler Menschen wieder den Vorzug gab, ist nicht präzise überliefert. Sicher weiß man lediglich, daß er am Abend gehenden Fußes der Ehrenfeier des Stadtmagistrates beiwohnte. Dank Weitzenkorns und seiner Genialität bleibt es für immer ein unvergeßlicher Tag. Die Annalen werden seiner in alle Zukunft dankbar gedenken.