Grundwerte in einer liberalen Gesellschaft

 

Karl-Heinz Hense

 

 

Ende der siebziger Jahre ergriff Rolf Schroers, der 1981 allzu früh verstorbene, langjährige Direktor der Theodor-Heuss-Akademie, in einem seiner Seminare das Wort, um sein Unbehagen an einer Grundwerte-Diskussion der Teilnehmer auszudrücken. Man muß hinzufügen, daß solche Diskussionen zur damaligen Zeit in allen politischen Lagern nachgerade zu einer Art Modedisziplin geworden waren. Er halte dieses Gerede für überflüssig, so befand Schroers; in der Politik gehe es heute nämlich nicht mehr um Grundwerte, darüber sei lange genug räsoniert worden, es gehe vielmehr um die von der Verfassung geforderte Verwirklichung der Grundrechte.

 

Für Schroers gehörten die Grundwerte in den Bereich der Appelle, worüber unter Politikern trefflich, aber meist folgenlos diskutiert und gestritten werden könne; die Grundrechte hingegen seien gesichert, in der Verfassung festgeschrieben und einklagbar. Es müsse der Politik, zumal der liberalen, die den Rechtsstaat auf ihre Fahnen geschrieben habe, darum gehen, diese Rechte Wirklichkeit werden zu lassen und Institutionen zu schaffen, die sie der beliebigen Zu- oder Aberkennung an die Bürger entrissen und ihre Verletzung bestraften. Nur dadurch könne die Freiheit des Individuums befestigt und das friedliche Zusammenleben der Menschen auf eine solide Grundlage gestellt werden.

 

Hinter dieser Auffassung verbirgt sich die Vorstellung von einer historischen Situation, in der die Frage nach den grundlegenden Übereinkünften zwischen den Menschen zugunsten eines rechtsstaatlichen, demokratischen Gemeinwesens dauerhaft entschieden ist. Von einer Situation auch, in der auf der Basis dieser Übereinkünfte der öffentliche Sektor des jeweiligen individuellen Lebenskreises so umfassend wie nötig und so gerecht wie möglich geregelt ist und seinem privaten Sektor, der öffentlicher Regulierung weitgehend entzogen sein muß, dadurch als Garant von Freiheit und Autonomie dient. Um es mit Schroers‘ eigenen Worten zu sagen: „Doch der Hinweis auf jene ideelle Freiheit, die unabhängig sein soll von den tatsächlichen äußeren Bedingungen, weist auf einen Kern von Freiheit, den ich den privaten Bereich von Freiheit nennen möchte, einen Bereich, in dem jeder wirklich unabhängig über sich verfügen kann, einen Bereich, für den gesellschaftliche und staatliche Einschränkungen nicht gelten, einen Bereich, der in der englischen Parole ‚My home is my castle‘ – ‚Mein Haus ist meine Burg‘ manifestiert wird. Verwirklichte politische Freiheit hat als Voraussetzung diese verwirklichte private Freiheit und baut auf ihr auf.“1

 

Ähnlich ist es im gesellschaftlichen Bereich. Dort treffen unterschiedliche Interessen aufeinander, die in aller Regel ebenfalls nicht vom Staat, auch nicht von politischen Parteien, sondern von Berufs- oder Interessenverbänden, von Vereinen und Bürgerinitiativen artikuliert und vertreten werden sollen, um sich dadurch etwa gegen ungerechtfertigte Maßnahmen des Staates oder gesellschaftlicher Machtgruppen zur Wehr zu setzen und schließlich, wenn nötig, wiederum rechtlich geschützte Übereinkünfte oder sogar kodifiziertes Recht, Gesetze oder Satzungen, zu erstreiten.

 

So entwickeln die Institutionen des freiheitlichen Gemeinwesens zusammen mit den Bürgern und der Gesellschaft, die ihre jeweiligen Interessen verfolgen, eine Art synergetischer Dynamik: Während der demokratisch legitimierte Gesetzgeber für die Aktivitäten im gesellschaftlichen und privaten Bereich den rechtlichen Rahmen vorzugeben hat, muß die Exekutive dessen Geltung gewährleisten. Die Grundrechte werden dabei, im Sinne klassisch liberaler Auffassung, vor allem verstanden als bei der Judikative einklagbare Schutzrechte des einzelnen gegenüber dem Staat, der seine Macht nicht mißbrauchen darf und in seine Schranken gewiesen werden kann.

 

Man mag nun an den „Nachtwächterstaat“ des 19. Jahrhunderts denken und an die problematischen sozialen Folgen des Laisser-faire- oder Manchester-Liberalismus; auch an den Horror vor kollektivistischen, ja, totalitären Tendenzen, die vom liberalen Bürgertum häufig, und nicht immer zu Unrecht, hinter allzu großer staatlicher Macht vermutet werden. Freilich muß man in bezug auf Schroers festhalten, daß er durchaus eine Theorie der Grundwerte hatte, auch ein Konzept der Chancengleichheit in der Gesellschaft,2 jedoch war ihm wichtig zu betonen, daß Staat und Politik im Bereich gesellschaftlicher und zumal privater Aktivitäten lediglich allgemeine Spielregeln festzulegen hätten, ansonsten sollten sie dort nur Zaungäste sein.

 

Freilich war und ist die Vorstellung der weitgehend getrennten Bereiche von Staat, Gesellschaft und Individuum eine Denkfigur, der die Realität immer nur unvollkommen entspricht; abhängig von den sich stetig wandelnden Verhältnissen findet sie mehr oder weniger Beachtung. Stärker als in den siebziger wurde in den achtziger und neunziger Jahren der Versuch unternommen, die Staatsquote in der Wirtschaft zu senken und der unternehmerischen Initiative mehr Spielraum zu lassen. Vor allem angesichts des wachsenden internationalen Konkurrenzdrucks wurden strukturelle Defizite im ökonomischen System der westlichen Demokratien unübersehbar. Mehr Marktwirtschaft und höhere Wettbewerbsfähigkeit ist deshalb die Devise, ohne daß dadurch allerdings bisher auch im sozialen Bereich nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen wären. Im Gegenteil: Senkung der Lohnkosten und damit Abbau von Arbeitsplätzen sind integraler Bestandteil der neuen Strategien.

 

Wissenschaftlich mag sich die abermals wachsende Aufmerksamkeit, die der nichtstaatliche, gemeinschaftliche Bereich als Problemlösungsfaktor findet, in der Kommunitarismus-Diskussion spiegeln, die den einen als Reaktion auf den egozentrischen, ja, nachgerade zynischen Individualismus der Postmoderne, den anderen als rückwärtsgewandte Heilssuche außerhalb staatlicher und gesellschaftlicher, verbindlicher Organisation und Verantwortung gilt. Wie immer: ganz gewiß hat diese sich von Nordamerika nach Europa ausdehnende Debatte mit dem Werteverfall im kapitalistischen, vor allem auf Konsum und Hedonismus ausgerichteten System zu tun.3 Man mag in diesem Zusammenhang die „Dialektik der Aufklärung“ bemühen, wonach der Fortschritt der Zivilisation seine Antithese, die inhumane Barbarei, wie eine Schlange an der eigenen Brust nährt; oder auch die Anomie, die permissive Gesellschaft, in der alles gleichgültig wird, wenn alles gleich gültig wird: immer läuft es darauf hinaus, daß offenbar das verinnerlichte Empfinden der Menschen für moralische und ethische Werte sowie für Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft verlorengegangen, wenigstens aber verkümmert ist.4 Mit der von Max Weber konstatierten „Entzauberung der Welt“ durch den Siegeszug der Wissenschaften und der Technik wurde offenbar nicht nur die irrationale, ängstliche Unterwerfung unter überirdische Mächte und vermeintliche Autoritäten zurückgedrängt, sondern auch die Geltung von verbindenden Werten und mitmenschlichen Gefühlen, die letzten Endes die Belastungsfähigkeit und den Zusammenhalt eines Gemeinwesens gewährleisten.

 

Die Auflösung der „brüderlichen Gesellschaft“ wird um so deutlicher, je weniger die moderne Konkurrenz-Ökonomie und der liberale Staat, an den man die administrative Verantwortung für soziale Fragen delegiert hat, in der Lage sind, Probleme der Armut und der Arbeitslosigkeit, der Kriminalität und der Obdachlosigkeit zu beseitigen. Dann fällt auf, daß die meisten Menschen dazu neigen, auszugrenzen statt zu teilen, beiseite zu drängen statt zu integrieren. Homo homini lupus – die alte Grundannahme, von Thomas Hobbes am eindrucksvollsten beschrieben, scheint sich zu bestätigen.5

 

Richtet man den analytischen Blick nüchtern auf den Staat, die politischen Parteien und die großen gesellschaftlichen Organisationen, so kommt man nicht umhin, ihnen anzukreiden, daß sie im Grunde kein taugliches Gesamtkonzept haben für die Bewältigung der Probleme, die eine kapitalistische, marktwirtschaftlich organisierte Konkurrenz-Gesellschaft über kurz oder lang erzeugen muß, wenn „soziale Kälte“ Einzug gehalten hat, weil Ethik und Moral nicht mehr zählen: Solange es nur nach der Leistungsfähigkeit des einzelnen geht, nur nach den Maßstäben von Profit und Erfolg, müssen zwangsläufig die Schwächsten, die am wenigsten Leistungsfähigen, durch den ökonomischen Rost fallen. Der Handlungsbedarf für Sozialpolitik und Fürsorge wird systemimmanent. Abhilfe zu schaffen, ist Sache des Sozialstaates, den unser Grundgesetz vorsieht, aber auch Sache der Gesellschaft, wenn sie sich denn als solidarische Gesellschaft versteht.

 

Ein gemeinsames Konzept aller Beteiligten, das über die viel zu kostspielige und anonyme materielle Sozialversorgung hinausgeht und auf Reintegration, Eigenverantwortung und vorbeugende Maßnahmen zielt, ist längst überfällig. Denn die ehemals vielleicht taugliche, vor allem von den Liberalen präferierte Allheil-Theorie, daß der Wettbewerb es schon richten werde, wenn man ihm nur möglichst freies Spiel lasse, funktioniert nicht mehr: Von einer Rezessionsphase zur anderen, auf die jeweils das „Gesundschrumpfen“, konjunkturelle Erholung und neues Wachstum folgen, wächst auch der Sockel der Arbeitslosen und überfordert den Sozialstaat alter Prägung mehr und mehr. Mit marktwirtschaftlichen Methoden allein kommen wir nicht ans Ziel, denn die Lockerung staatlicher Vorschriften (Deregulierung), die Senkung der Staatsquote und Schaffung größerer Freiräume zur Eigeninitiative der Bürger führen vor allem zu verbesserten Wettbewerbsbedingungen für die ohnehin Starken; die Hoffnung auf das trickle down, das Durchsichern der ökonomischen Prosperität in den Bereich der sozial Schwachen, erfüllt sich nur zu geringen Teilen. Es bleibt ein in den letzten Jahren stetig wachsender Restbereich, für den es einer neuen, unbürokratischen Sozialpolitik im Verbund mit gesellschaftlichen Initiativen bedarf, wenn er nicht verelenden und zur ernsten Bedrohung für Staat und Gesellschaft werden soll.

 

Statt aber aufgrund dieser Erkenntnis gemeinsam ein Konzept zu entwickeln, das den Problembereichen der Gesellschaft gerecht würde, verschließen Staat, Parteien und gesellschaftliche Organisationen nur allzu oft einfach die Augen davor, daß die Gräben zwischen Armen und Reichen, Leistungsfähigen und Schwachen, immer tiefer werden und die Anzahl der Ausgegrenzten weiter wächst. Ja, durch den Ruf nach mehr Eigenbeteiligung in der sozialen Vorsorge und Versorgung, der ja angesichts der überforderten Sozialhaushalte verständlich und richtig ist, verschärfen sich gar noch die Probleme; und man nimmt ratlos in Kauf, daß aus Verelendung kriminelles Potential entsteht und der gesellschaftliche Konsens mehr und mehr in Frage steht. Ralf Dahrendorf etwa weist seit Jahren immer wieder auf diese Gefahr hin und fordert zur Verwirklichung der sozialen Gleichheit ein garantiertes Mindesteinkommen für alle.6 Lange hat man ihn und andere absichtsvoll überhört, erst allmählich finden analoge Forderungen zum Beispiel nach einem Bürgergeld oder nach Konzepten wie der Negativsteuer Eingang auch in Parteiprogramme und staatliche Planungen, ohne daß sie freilich bisher umgesetzt worden wären. Wobei zu betonen ist, daß solche Programme nur der Anfang sein dürfen; vorbeugende Maßnahmen in der Aus- und Fortbildung sowie eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die sich an der tatsächlichen Nachfragesituation in der Gesellschaft und nicht an überholtem Besitzstandsdenken orientiert, müssen damit einhergehen.

Bis dahin jedoch scheint noch ein weiter Weg zu sein. Angesichts des Bildes der Hilflosigkeit, das Politik, Administration und Parteien nur allzu oft abgeben, kann nicht verwundern, daß, nicht nur bei den Kommunitaristen, der Blick immer häufiger auf die Möglichkeiten der Gemeinschaft fällt. Und es wird wieder deutlich, daß neben den Grundrechten als Kern staatlicher Rechtsgarantie die Grundwerte für politisches und gesellschaftliches, ja, für privates Handeln neue Relevanz gewinnen, auch wenn sie sich oftmals in Appellen an Hilfsbereitschaft und Solidarität der Menschen erschöpfen mögen. Jost Hermand hat diese Erkenntnis in einem bilanzierenden Aufsatz folgendermaßen ausgedrückt: „Wie also heute auf die Ideale der frühen Französischen Revolution zurückgegriffen wird, sollte man nicht einseitig die Freiheit, sondern ebensosehr die Gleichheit und die Brüderlichkeit herausstellen oder zumindest auf die unabdingbare, wenn auch komplexe Einheit von ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ hinweisen. ... Sobald man nämlich diese drei Vorstellungen wieder aufeinander bezieht und sich damit gegen jenen einseitigen Freiheitsbegriff wendet, der zur totalen Rücksichtslosigkeit der Natur und den Menschen gegenüber geführt hat, erweist sich die Aufklärung als nach wie vor höchst aktuell.“7

 

An dieser Stelle könnte der Leser innehalten und mit Recht fragen, was denn die Proklamation der Aktualität der Aufklärung noch mit dem liberalen Credo vom Vorrang der Freiheit, das etwa Werner Maihofer eindrucksvoll formuliert hat,8 zu tun habe. Nun, sie kann zum Beispiel in Erinnerung rufen, daß die Realisierung des Grundwertes der Freiheit als ständige politische Aufgabe nur dann in der jeweils gegebenen gesellschaftlichen Situation gelingen kann, wenn die beiden anderen Grundwerte nicht vernachlässigt werden und wenn im Bewußtsein der Menschen und in der praktischen Politik nicht in Vergessenheit gerät, daß Freiheit des Individuums immer abhängig ist von Gleichheit und Brüderlichkeit in Staat und Gesellschaft. Wobei Gleichheit selbstverständlich nicht als Gleichmacherei und Brüderlichkeit nicht als lediglich barmherzige Vergabe von Almosen mißzuverstehen ist.

 

Vielleicht sind die Begriffe Gerechtigkeit und Solidarität heute tatsächlich präziser, insofern sie auf die Herstellung politischer, rechtlicher und sozialer Gleichheit als Aufgabe des Staates und auf die organisierte Hilfe der Starken für die Schwachen als Aufgabe der Gesellschaft hinweisen. Freilich wird dabei stets die Frage zu entscheiden sein, wie tief Staat und Gesellschaft in das Leben der Bürger eingreifen dürfen, ohne ihre „private Freiheit“, ihr Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der individuellen Kreativität, von der eine pluralistische Gesellschaft die entscheidenden Impulse erhält, über Gebühr einzuschränken.

 

Es handelt sich hier um den klassischen politischen Konflikt, der am deutlichsten im schwierigen Abwägen von Sicherheit und Freiheit zum Ausdruck kommt. Daß die Freiheit des einzelnen ihre Grenze dort finde, wo die Freiheit des Nächsten beginnt, haben schon liberale Klassiker wie Friedrich Naumann, Theodor Heuss und Karl-Hermann Flach hinreichend klargemacht. Im Einzelfall jedoch ist immer aufs Neue zu entscheiden, wo, an welchen politischen Markierungen entlang, diese Grenze denn verläuft. Und es ist einem verantwortungsbewußten Politiker verboten, sich vor der schwierigen Grenzziehung einfach zu drücken, indem er möglichst alle Maßnahmen, die individuelle Freiheit (der Starken) einschränken könnten, für ökonomisch schädlich erklärt und die Sorge für die Schwachen und Elenden kurzerhand einer invisible hand oder der „List der Geschichte“ überläßt.

 

Insofern kommt es auf das Bild von der Gesellschaft und vom Menschen an, auf das die Politik ihre Maßnahmen richtet. Wenn es nur um die aktive Gesellschaft, den leistungsfähigen einzelnen geht, dann reicht eine Ordnungspolitik aus, die möglichst freizügiges, unbehindertes Handeln der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen sichern will. Die sozial Schwachen und die am wenigsten Leistungsfähigen freilich passen nicht in dieses Bild. Sie könnten mehr und mehr marginalisiert werden, obwohl ihre Zahl doch steigt, und der Freiheit könnte daraus eine äußerst bedrohliche, latente Gefahr erwachsen, die eines Tages manifest wird und nicht mehr zu bannen ist.

 

Wenn es andererseits nur um die Fürsorge, um die Sorge um materielle Wohlfahrt der Menschen geht, die staatliches Handeln leitet, dann greifen die Gesetze bald weiter und weiter in den gesellschaftlichen Bereich über und schaffen eine am Ende nur noch schwer zu übersehende, geschweige denn gerecht zu handhabende Bürokratie, ein modernes „Gehäuse der Hörigkeit“, dessen Kennzeichen Bevormundung und Entmündigung der Menschen sind. Die Kreativität des Individuums, die Eigeninitiative und die Bereitschaft des einzelnen, Verantwortung zu tragen, nähmen allzusehr Schaden, so daß im Ergebnis eine fast statische, lethargische Gesellschaft entstünde, deren Niveau mehr und mehr sinkt und die dann genau das produziert, was zu verhindern ihre Politiker angetreten waren: ein soziales Problemgebirge.

 

Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen muß die richtige, Effektivität und soziale Gerechtigkeit erzeugende Ordnung liegen, die einer freiheitlichen Auffassung von Staat und Gesellschaft entspricht und friedliches Zusammenleben der Menschen dauerhaft ermöglicht. Freilich gibt es die Generallinie, das Patentrezept nicht, sie sind Illusionen. Vielmehr muß in jedem politischen Einzelfall entschieden werden, ohne daß die grundsätzliche Aufgabe dabei aus dem Blickfeld gerät: stets die größtmögliche Freiheit der größtmöglichen Zahl zu gewährleisten; eine Vision, die als Orientierungslinie dient, als ideales Ziel, das immer nur annähernd erreicht werden kann. Es bleibt eben die mühsame Klein- und Kleinstarbeit in der Politik, ohne die es nicht geht und die zweierlei voraussetzt: an Grundwerten und Prinzipien orientierte, ständige Fortentwicklung politischer Programmatik gemäß den tatsächlichen Gegebenheiten in Staat und Gesellschaft; und gleichzeitig ständige Überprüfung und Veränderung des konkreten politischen Handelns entsprechend der sozialen Diagnose und der programmatischen Therapie.

 

Nicht daß wegen dieser Vergleiche Politik und Gesellschaft nun wie ein andauernder Krankheitszustand anzusehen wären; jedoch fordert auch der gesunde Organismus pflegliche Behandlung und gelegentliche Kuren. Und treten dennoch Krankheiten auf, schwere gar wie die Massenarbeitslosigkeit, dann sollten im Sanitätsschrank des Gemeinwesens die geeigneten Mittel vorhanden sein, um ihnen wirkungsvoll zu begegnen. Die Probleme zu ignorieren oder zu verniedlichen bedeutet in der Politik wie in der Medizin, sie in Wirklichkeit zu verschlimmern.

 

Wie aber müssen solche Mittel heute beschaffen sein? Das ist die entscheidende Frage. Die Vorstellung, die Rolf Schroers in den siebziger Jahren vom Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Individuen hatte, nämlich ein freies, prosperierendes Gemeinwesen gewährleisten zu können, wenn der erste von den beiden anderen sorgfältig getrennt bliebe und im Idealfall nichts als den rechtlichen Rahmen garantiere, scheint uns inzwischen abhanden gekommen. Das politische Instrumentarium der Jahre um die Jahrtausendwende muß Staat, Gesellschaft und Individuen in ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Zusammenleben der Menschen gleichermaßen in Anspruch nehmen. Die Grundwerte sind mehr denn je aufeinander bezogen, wenn für den Liberalen die Freiheit auch unverändert Vorrang genießt. Es gilt nach wie vor das Wort von Thomas Dehler: „Ohne Leidenschaft wird in der Welt nichts bewegt, auch nichts behauptet. Freiheiten werden nicht wie Pensionsrechte gewährt, sie müssen immer wieder errungen werden. Unsere vordringliche Aufgabe ist, den Menschen deutlich zu machen, was die Freiheitsrechte bedeuten, was sie geistig sind, was sie politisch, wirtschaftlich bedeuten, daß in ihnen die Antworten auf die dringenden Fragen unserer Zeit liegen.“9

 

Wie aber ist gemeinschaftliches Handeln zum Zwecke der Bewahrung der Freiheit zu bewerkstelligen? Sind Runde Tische, die alle Beteiligten zusammenbringen, die geeignete Form, sind es Konzertierte Aktionen oder andere Diskussionsrunden zwischen dem Staat und seinen gesellschaftlichen Partnern? Auch dafür gibt es die Modell-Lösung wohl nicht. Von Fall zu Fall müssen sich im Rahmen eines flexiblen Gesamtkonzeptes staatliche und gesellschaftliche Maßnahmen sinnvoll ergänzen, damit die freiheitliche Demokratie weiterhin funktioniert. Dabei werden wir abrücken müssen von der liebgewordenen Ansicht, der Sozialstaat werde es schon richten, und uns an die Notwendigkeit zu gewöhnen haben, daß wir im gesellschaftlichen und privaten Bereich wieder selbst mehr beitragen zum Wohle unseres Gemeinwesens und (dadurch) zu unserem eigenen Wohl.

 

Anregungen und beispielhafte Überlegungen zur Überwindung der Krise gibt es inzwischen an manchem Ort. Immer wichtiger scheint dabei die Notwendigkeit flexiblen Umgehens mit der jeweils gegebenen Situation zu sein. Ob es sich um die unterschiedlichen Verhältnisse in Betrieben handelt, auf die Betriebsvereinbarungen viel besser reagieren können als generalisierende Flächen-Tarifverträge, die deshalb nur ein Minimum regeln sollten,10 um die weitere Flexibilisierung der Ladenöffnung oder um die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, bei der man der Phantasie keine Schranken setzen sollte – immer geht es zuerst darum, verharzte Strukturen aufzubrechen und Sensibilität für neue Lösungen zu schaffen. Und zwar sowohl bei staatlichen wie bei gesellschaftlichen Machtzentren – und nicht zuletzt in den Köpfen der einzelnen Menschen.

 

Am Ende ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und ihrer Folgen wohl nur durch ein Bündel von Maßnahmen zu erreichen, wie sie etwa im „Weißbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ der Europäischen Kommission aufgeführt sind.11 Dabei müssen alle Bereiche, auf die sich die Grundwerte beziehen, zusammenwirken: Die Menschen müssen flexibler und mobiler werden, was zum Beispiel lebenslanges Lernen und häufigeren Ortswechsel angeht, auch mehr Eigenverantwortung für ihre sozialen Belange tragen; die Unternehmen und andere gesellschaftliche Institutionen müssen Aufgaben erledigen, die früher der Staat wahrgenommen hat, zum Beispiel im Bereich von Aus- und Fortbildung oder Umschulung; und der Staat schließlich muß mit neuen Programmen der gerechteren Besteuerung und Begünstigung von arbeitsplatzschaffenden Maßnahmen das System sozialer Absicherung finanzierbar erhalten. Alles zusammen sollte ein Konzept ergeben, in dem die verschiedenen Bestandteile sinnvoll ineinandergreifen und dadurch die belastungsfähige Grundstruktur, das Fundament bilden, auf der das Gemeinwesen ruht.

 

Vor einem Mißverständnis freilich ist zu warnen: Die gesunde Konkurrenz und das legitime Verfolgen jeweils eigener Interessen in der pluralistischen Gesellschaft darf keineswegs durch ein lammfrommes Konsens-Modell ersetzt werden. Dadurch würde ein Großteil der synergetischen Dynamik erlahmen, von der oben die Rede war. Allerdings kann es auch nicht der richtige Weg sein, wenn einzelne Organisationen oder Gruppen versuchen, die gesamte Last der notwendigen Strukturänderung auf andere abzuwälzen und selbst lediglich zu profitieren.

 

Bei allem, was zu dieser Bewältigung zukünftig getan wird: wir werden immer sorgsam darauf achten müssen, daß die Demokratie, der Rechtsstaat und seine Institutionen nicht beschädigt werden. Konzepte, die den Bürgerrechten nachrangige Bedeutung beimessen, weil sie den ökonomischen Fortschritt zu behindern geeignet seien, weisen in die falsche Richtung, auch wenn sie in anderen Kulturen für hohe Wirtschaftswachstumsraten sorgen mögen. Rechtsstaat und Demokratie müssen nach wie vor die Spielregeln für das Funktionieren des friedlichen Zusammenlebens vorgeben und durchsetzen können, um Freiheit und Fortschritt gleichermaßen zu sichern. Wichtig ist dabei die richtige Balance, die zwar Gerechtigkeit gewährleistet, aber zuviel Reglementierung vermeidet, um Kreativität und Initiative den nötigen Freiraum zu lassen. Auf diesem Wege muß sich eine Willensbildung des Volkes ergeben, wie sie das Grundgesetz meint, und an der die Parteien eben nur mitwirken, nicht mehr. Für ein liberale Gemeinwesen ist dies die geeignete Form, der Vorstellung von realisierten Grundwerten näher zu kommen: Gleichheit in Freiheit und Brüderlichkeit in Freiheit.

 

 

 

1 Rolf Schroers, Liberale Politik, in: Geschichte und Staat, Band 192/193, München 1975, S. 240.

2 Schroers (Anm. 1), S. 237 ff.

3 Vgl. zum Beispiel: Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, in: Transit – Europäische

   Revue, Heft 5, Frankfurt 1992/92, S. 5 - 21.

4 Hans Küng etwa spricht in diesem Zusammenhang von einer „Orientierungskrise“ und führt dazu aus: „Wir haben

   ungezählte Gesetze, Programme, Pläne, aber zu wenig innere Bereitschaft der Menschen, sich an Werte und

   Normen selbst zu binden, die mehr sind als bloße Regeln zur eigenen Lustmaximierung. Kurz: Wir haben sehr

   viele Vorschriften, aber zu wenig Ethos.“ In: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog (Hrsg.),

   Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit, Stuttgart 1994, S. 15.

5 Dem Verhalten des Menschen als lupus, als Wolf, steht bei Hobbes und seinen Vorgängern die komplementäre

   Verhaltensweise als lepus, als Hase, gegenüber. Und tatsächlich ist es auch heute wieder oft genug die Angst des

   Hasenfußes vor den großen Bedrohungen der Zeit, die viele Menschen (und Politiker) kleinmütig die Augen

   verschließen läßt.

6 Ralf Dahrendorf, Ein garantiertes Mindesteinkommen, in: ders., Fragmente eines neuen Liberalismus, Stuttgart

   1987, S. 147 – 161.

7 Jost Hermand, Liberté – Egalité – Fraternité. Die Postulate einer unvollendeten Revolution, in: Gerhard Bott

   (Hrsg.), Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Nürnberg 1989,

   S. 31 – 41, hier: S. 40.

8 Vgl.: Werner Maihofer, Grundwerte heute in Staat und Gesellschaft, Broschüre des Presse- und Informations-

   amtes der Bundesregierung, Bonn 1976.

9 Thomas Dehler, Das liberale Leitbild (1965), in: ders., Reden und Aufsätze, Köln/Opladen 1969, S. 10 – 23, hier:

   S. 18.

10 Zur Problematik, die bei der Abgrenzung von Tarifverträgen zu Betriebsvereinbarungen zu beachten ist, vgl.

   Richard Layard, Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit, in: Arbeit der Zukunft (anm. 5), S. 135 – 151.

11 Europäische Kommission, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart

   und Wege ins 21. Jahrhundert, Luxemburg 1994, S. 143 ff.